Der Turm im See
Der Turm, der heute aus den stillen Wassern des Reschensees ragt, ist ein stummes Zeugnis einer bewegenden und tragischen Geschichte. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein malerisches Fotomotiv, doch dahinter verbirgt sich eine Chronik von Verlust, Widerstand und Veränderung, die das Leben vieler Menschen für immer geprägt hat.
Ein malerischer Ort und ein dunkles Schicksal
Bevor der Reschensee zum Stausee wurde, war das obere Vinschgau, insbesondere die Gegend um die drei natürlichen Seen – den Reschensee, den Mittersee und den Haidersee – ein ruhiges und malerisches Gebiet. Die Dörfer Graun und Reschen lagen idyllisch eingebettet in die Landschaft, und die Menschen lebten hauptsächlich von der Landwirtschaft.
Alles änderte sich jedoch Mitte des 20. Jahrhunderts, als ein gigantisches Stauprojekt umgesetzt wurde. Bereits seit dem 19. Jahrhundert gab es Pläne, den See zur Energiegewinnung zu nutzen, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Pläne unter der italienischen Regierung rücksichtslos vorangetrieben. Die Bevölkerung der betroffenen Dörfer wurde dabei kaum beachtet, ihre Proteste blieben ungehört.
Der Widerstand der Bewohner
Die Bewohner von Graun und Reschen kämpften verzweifelt gegen die drohende Überflutung. Allen voran Pfarrer Alfred Rieper, der sich für den Erhalt der Dörfer einsetzte. Es wurden Petitionen geschrieben, politische Appelle gestartet und sogar eine Audienz beim Papst in Rom erbeten – doch alles ohne Erfolg. Die wirtschaftlichen Interessen des Großkonzerns Montecatini, der das Stauprojekt durchführte, hatten Vorrang.
Die Katastrophe
Im Sommer 1950 war das Schicksal besiegelt: Die Schleusen wurden geschlossen, und das Wasser begann zu steigen. Innerhalb weniger Wochen wurden 677 Hektar Land überflutet. 150 Familien verloren ihre Häuser, Höfe und Felder. Viele von ihnen mussten auswandern, da die Entschädigungen gering und die Lebensumstände in den Notunterkünften schwierig waren. Das Dorf Graun versank in den Fluten, und nur der Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert blieb als einsamer Zeuge stehen.
Ein Symbol des Verlusts und der Stärke
Heute ist der Turm im Reschensee ein weltbekanntes Wahrzeichen und eine Touristenattraktion. Doch für die ehemaligen Bewohner und ihre Nachfahren ist er vor allem ein Symbol des Verlustes, der erzwungenen Umsiedlung und des Widerstands. Der Turm erinnert an eine Zeit, in der eine ganze Dorfgemeinschaft ihre Heimat aufgeben musste, und steht gleichzeitig für die Stärke und den Zusammenhalt der Menschen, die trotz allem weitergemacht haben.
Der Turm im See ist mehr als nur eine Sehenswürdigkeit. Er ist ein Mahnmal für den Umgang mit Natur und Mensch und ein eindrückliches Beispiel dafür, wie politische und wirtschaftliche Entscheidungen das Leben ganzer Gemeinden für immer verändern können.